Den Atomausstieg vollenden und den Kohleausstieg vorantreiben – eigentlich zentrale Ziele für das Laternenbündnis. Doch der Krieg in der Ukraine hat die energiepolitischen Pläne erschüttert. Von Martin Polansky, ARD-Hauptstadtstudio
Die Laternenkoalition hatte einen energiepolitischen Plan: Atomausstieg noch in diesem Jahr abschließen, Kohleausstieg möglichst bis 2030, Erneuerbare zügig ausbauen – und Versorgungslücken bei Gaskraftwerken schließen. Das war der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP. Erdgas sollte die mineralische Brücke in die klimaneutrale Energiewelt der 2030er oder 40er Jahre schlagen, sogar der umfangreiche Bau weiterer Erdgaskraftwerke war geplant. RBB-Logo Martin Polansky ARD-Hauptstadtstudio Aber wegen Russlands Krieg in der Ukraine ist es jetzt Kohle statt Erdgas. Grünen-Klimaminister Robert Hambeck räumt ein, dass dies ein Rückschritt in der Klima- und Energiepolitik sei. „Man sollte sich nicht einreden, dass das eine große Sache ist. Aber es ist notwendig, den Gasverbrauch zu senken.“
“Vorübergehend wieder auf dem Markt”
Das Problem: Gerade Braunkohle emittiert bei der Stromerzeugung deutlich mehr CO2 als Erdgas. Allerdings wird Erdgas nun knapp und muss daher für Industrie und Wärmeerzeugung reserviert werden – aber möglichst nicht für die Stromerzeugung. Stattdessen hat die Bundesregierung die Weichen dafür gestellt, dass zur Abschaltung vorgesehene Kohlekraftwerke aus dem Standby genommen und wieder hochgefahren werden.
Im Kohlesektor gibt es bereits eine konkrete Liste von Kraftwerken, die „für eine begrenzte Zeit an den Markt zurückkehren dürfen“. Das sind zehn Kohlekraftwerke mit einer Leistung von 4,3 Gigawatt. Die Pflanzen waren bereits in Reserve. Hinzu kommen elf Stein- und Braunkohlekraftwerke, deren geplante Abschaltung verschoben wurde: 2,6 Gigawatt Leistung. Und weitere Braunkohlekraftwerke aus der sogenannten Versorgungsreserve müssen notfalls zugeschaltet werden, wenn die Stromversorgung im Herbst zu knapp wird.
Höhere CO2-Emissionen werden erwartet
Wie viele Reaktoren letztendlich wieder ans Netz gehen werden, ist derzeit nicht absehbar und hängt auch davon ab, ob die Betreiber die Kraftwerke überhaupt wieder hochfahren wollen. Vor allem ist unklar, wie viele der Braunkohlekraftwerke aus der Einspeisereserve tatsächlich wieder hochgefahren werden.
Mirko Schlossarczyk von der Unternehmensberatung Enervis Energy Advisors in Berlin rechnet mit insgesamt rund zehn Gigawatt Kraftwerksleistung, die theoretisch schon zur Verfügung stehen würden. Zum Vergleich: Lokale Kohlekraftwerke haben derzeit eine Leistung von knapp 40 Gigawatt.
Die Reaktivierung wird laut Schlossarczyk auch Folgen für den CO2-Ausstoß haben: „Nach unseren Berechnungen wird der Stromsektor im Jahr 2023 30 bis 40 Millionen Tonnen mehr CO2 ausstoßen. Das sind etwa 20 Prozent mehr als im Vorjahr.“
Herzenssache für die Grünen
Das ließe sich zumindest teilweise verhindern, argumentieren Befürworter einer stärkeren Nutzung der drei verbleibenden deutschen Atomkraftwerke. Denn sie werden praktisch klimaneutral Strom produzieren, betonen Union und AfD. Und innerhalb der Koalition fordert die FDP nun unmissverständlich, die Atomoption zumindest ernsthaft in Erwägung zu ziehen. „Ich bin jedenfalls nicht zufrieden“, sagte FDP-Fraktionschef und Finanzminister Christian Lindner, „dass wir zwar die klimaschädliche Kohle ausbauen, aber die Möglichkeiten der Atomkraft gar nicht erst ins Auge fassen verändert sehen möchte. .Du musst es zumindest bedenken – unideologisch.”
Die drei verbleibenden Kernreaktoren Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 haben eine installierte Leistung von 4,3 Gigawatt und decken etwa 6 % der deutschen Stromerzeugung ab. Mit der geplanten Stilllegung Ende des Jahres wird diese Kapazität wegfallen und müsste an anderer Stelle ersetzt werden – in einer Situation ohnehin hoher Energieversorgungsunsicherheit.
Auf der anderen Seite hat die Atomkraft die Gesellschaft wie kein anderes Thema jahrzehntelang erschüttert und gespalten. Der eventuelle Ausstieg schien bis vor kurzem unvermeidlich, eine Herzensangelegenheit der Grünen und großer Teile der SPD.
Der Stresstest soll Klarheit bringen
Die Bundesregierung will die Atomfrage nun mit einem weiteren Stresstest des Strommarktes im Auftrag des grün-geführten Finanzministeriums aufklären. Die großen vier Unternehmen, die die Stromnetze betreiben, prüfen anhand von Worst-Case-Szenarien, ob im Winter Engpässe in der Stromversorgung drohen könnten – auch auf regionaler Ebene. Vor allem Bayern wird als potenzielles Problem gesehen. Und dort läuft noch das Kernkraftwerk Isar 2, das laut einem Gutachten des TÜV Süd nach dem Jahreswechsel relativ problemlos mit seinen vorhandenen Brennstäben Strom erzeugen könnte. Dies wäre dann ein sogenannter Streckvorgang.
Bemerkenswerterweise können sich mittlerweile sogar die bayerischen Grünen einen solchen Streckvorgang “im Extremfall” vorstellen. Es gelte, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, so die Partei- und Fraktionsführung in München.
Und Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt wollte am Sonntag in „Anne Will“ eine Dilatationsoperation nicht mehr kategorisch ausschließen: „Das heißt, wenn wir einen echten Notfall haben, können Krankenhäuser nicht mehr funktionieren, wenn …