Der türkische Minister warf Deutschland „zweierlei Maß“ vor und kritisierte, dass die neue Bundesregierung gegenüber der Türkei einseitig Stellung beziehe: Er forderte Deutschland auf, gegenüber seinem Land zu einer „ausgewogenen Position“ zurückzukehren. Zu Beginn der gemeinsamen Pressekonferenz mit Cavusoglu machte Baerbock deutlich, dass sie Klartext sprechen wolle. Die enge Bindung Deutschlands an die Türkei mache es erforderlich, “aufeinander zu hören, auch wenn einem die Ohren wehtun”. Diplomatie bedeute nicht, „Plattitüden auszutauschen“, sagte er. Auch Themen, „bei denen wir beide in einer Pressekonferenz zusammenbrechen könnten“, sollten angesprochen werden. Der Minister äußerte daraufhin eine Reihe von Kritikpunkten. Die Türkei müsse die Freilassung von Osman Kavala umsetzen, der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu lebenslanger Haft verurteilt worden sei, sagte er. Jeder sollte das Recht haben, gegen Unrecht vor dem Menschenrechtsgerichtshof vorzugehen. Cavusoglu warf Baerbock daraufhin vor, den Fall Kavala gegen die Türkei auszunutzen. “Sie nutzen Osman Kavala gegen die Türkei aus”, sagte er. Die Ministerin wies darauf hin, dass Deutschland und andere Länder nicht jede Entscheidung des Menschenrechtsgerichtshofs umgesetzt hätten und sprach von „Doppelmoral“. Streit um die griechischen Inseln Scharfe Worte wechselten die beiden Minister auch in der Griechenland-Frage. Bei einem früheren Besuch in Athen hatte Baerbock die griechische Regierung ungewöhnlich deutlich gegen den Anspruch der Türkei auf mehrere Ägäis-Inseln unterstützt: “Die griechischen Inseln sind griechisches Territorium, und niemand hat das Recht, das zu bestreiten”, sagte sie. Cavusoglu warf ihr daraufhin vor, auf „griechische Propaganda“ hereingefallen zu sein. Deutschland muss seine einseitige Unterstützung Griechenlands aufgeben und die Rolle des Vermittlers wieder einnehmen. “An Propaganda glauben und in solch kontroversen Themen Partei ergreifen: Das erwarten wir von Deutschland nicht”, sagte Cavusoglu – und fügte einen Tipp hinzu: Unter Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) habe Deutschland immer als “ehrlicher Vermittler” agiert. Ich habe diese Rolle aufgegeben. Baerbock entgegnete ihrem türkischen Kollegen: „Natürlich ist es keine Propaganda, wenn man anderer Meinung ist.“ Vor allem für Nato-Partner wie die Türkei und Griechenland solle es „ungewiss sein, dass wir unsere Grenzen respektieren“, sagte er. Bei Meinungsverschiedenheiten seien die Ziele „niemals durch Eskalation zu erreichen“. Cavusoglu wiederum warf Baerbock vor, Griechenland mit Kritik zu verschonen – etwa in der Frage der rechtswidrigen Zurückweisung von Flüchtlingen an der griechischen Grenze. “Sie sollten Griechenland sagen können, dass Griechenland falsch liegt”, forderte Cavusoglu den deutschen Außenminister auf. Auch hier warf er Baerbock Doppelmoral vor: Die EU-Staaten wichen gegenseitig der Kritik aus, richteten sie dann aber noch heftiger gegen die Türkei. Die beiden Minister hatten auch widersprüchliche Ansichten zu Nordsyrien. Cavusoglu sagte, das türkische Militär operiere dort, um kurdische „terroristische Gruppen“ zu bekämpfen, die die Türkei bedrohen. Baerbock warnte davor, dass eine Ausweitung des türkischen Militäreinsatzes die Situation dort weiter verschärfen und radikalislamischen Gruppen den Boden bereiten könnte, um wieder an die Macht zu kommen.
Baerbock will Oppositionelle besuchen
Baerbocks Reise endet am Samstagnachmittag in der türkischen Hauptstadt Ankara. Dort will er mit Vertretern der türkischen Opposition und der Zivilgesellschaft zusammentreffen. Auch der Besuch eines Hilfsprogramms für Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak ist geplant. Baerbock hat sich bewusst dafür entschieden, ihre Antrittsbesuche bei den beiden verfeindeten Nato-Partnern Griechenland und Türkei zu verbinden. In Athen hatte sich Baerbock im griechisch-türkischen Konflikt um die griechischen Inseln in der östlichen Ägäis klar auf die Seite Griechenlands gestellt. Die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei haben sich zuletzt massiv verschlechtert. Ankara bestreitet die Souveränität griechischer Inseln in der östlichen Ägäis wie Rhodos, Samos und Kos und fordert den Rückzug des griechischen Militärs. Die Türkei unterstreicht die Forderungen mit Überflügen türkischer Kampfjets über bewohnte griechische Inseln. Griechenland begründet den Truppeneinsatz mit der Präsenz zahlreicher Landungsboote an der türkischen Westküste. Die Opposition in der Türkei steht seit Jahren unter enormem Druck. Der prokurdischen Oppositionspartei HDP etwa droht ein Verbot. Zuletzt hatten sechs türkische Oppositionsparteien ein gemeinsames Grundsatzprogramm veröffentlicht. Beobachter spekulieren, dass die Parteien ein Bündnis bilden und einen gemeinsamen Kandidaten für die Wahlen 2023 aufstellen werden.Das Bündnis besteht aus der größten Oppositionspartei CHP, der nationalkonservativenIyi-Partei und der Deva-Partei.